Weihnachtsgeschichte: Willy, der große Weihnachtsbaum

Veröffentlicht von Rosi Würtz am

Als Willy das erste Mal aus dem Erdboden schaute, ahnte er noch nicht, dass er schon bald so groß und stark sein würde wie die großen Tannenbäume um ihn herum. Er streckte zuerst vorsichtig einen klitzekleinen Spross durch eine kleine Lücke in der Erde und spürte die warme Sonne. Willy fand es schön und gemütlich hier über der Erdoberfläche. Er vergaß innerhalb kürzester Zeit die Enge und Dunkelheit untertage. Hier oben würde er schnell groß und stark werden!

Der Gärtner kam jeden Tag mit leckerem Wasser zu ihm und seinen Nachbarbäumen. Die Sonne ließ fleißig ihre Sonnenstrahlen auf die Pflanzen scheinen. Es gab mehrere gerade Reihen von Bäumen, die etwas größeren standen weiter hinten auf dem Feld, die kleineren und die ganz kleinen Tannenbäume weiter vorne. Willy war noch winzig klein und stand in der vordersten Reihe. Aber er wuchs schnell und der Gärtner freute sich über jeden Zentimeter, den Willy von Tag zu Tag in Richtung Himmel wuchs.

Wachsen will gelernt sein

Die Tannenbäume aus den hinteren Reihen riefen eines Tages zu Willy herüber: „Hey Kleiner, weißt Du eigentlich schon, was mit uns Bäumen passiert?“ Woher sollte der kleine Tannenbaum das denn wissen? Er schüttelte mit seinen Ästchen und piepste den größeren Bäumen zurück: „Nein, das weiß ich noch nicht! Könnt ihr es mir denn verraten?“

Diese sagten nur lässig: „Schau uns an, wir sind schon groß und stark! Dieses Jahr werden wir wohl gegen Ende des Jahres zu Weihnachtsbäumen! Die Menschen werden uns bunt schmücken und bestaunen! Aber Du, kleiner Tannenbaum, musst noch lange warten und fleißig wachsen. Ob Du dann wirklich ein großer, starker Weihnachtsbaum wirst, steht noch in den Sternen!“

Hatte Willy da gerade eben richtig gehört? Die alten Bäume zweifelten daran, dass Willy später nicht ein großer, starker Weihnachtsbaum werden würde? Das konnte doch wirklich nicht sein, eine wahre Frechheit!

Willy wächst und wächst immer weiter

In den nächsten Monaten reckte und streckte sich Willy. Er wollte wachsen und groß werden. Seine kleinen Äste und Zweige wurden immer länger und dicker. Durch seine Wurzeln zog er alles Wasser auf, das im Erdboden unter ihm zu finden war. Zentimeter um Zentimeter wurde er größer und die Gärtner warfen im Vorbeigehen immer wieder einen staunenden Blick auf diesen äußerst ehrgeizig wachsenden Tannenbaum.

Der Sommer brachte dieses Jahr viel Regen mit und war schnell vorüber. An den sonnigen und heißen Tagen konnte man beobachten, wie jede von Willy Tannennadeln hastig nach jedem Sonnenstrahl griff. Dann wurde es kühler und der Herbst zog ins Land. Die Laubbäume verfärbten sich kunterbunt in allen nur erdenklichen Farben. Und dann verloren sie – ein Baum nach dem anderen Baum – ihr buntesn Blätterkleid. Willy war froh, dass sich seine grünen Nadeln nicht von ihm trennen wollten.

Er war mittlerweile schon fast zwei Meter hoch und hatte einen kräftigen Stamm, der seine volle Pracht an dicht bewachsenen Zweigen trug. In seiner Umgebung unterhielten sich die angehenden Weihnachtsbäume bereits jetzt, wo sie denn letztendlich an Weihnachten platziert werden würden. Viele wünschten sich einen gemütlichen Platz in einem Wohnzimmer mit voller Schmuckgarnitur, umgarnt von einer leuchtenden Lichterkette und bunt glitzernden Christbaumkugeln.

„Ach du je“, dachte sich Willy insgeheim, „wie kleinkariert und einfältig sind denn meine Nachbarbäume drauf? Wenn ich schon ein Weihnachtsbaum dieser Pracht bin und mir so viel Mühe mit dem Großwachsen gegeben habe, dann möchte ich auch stolz und erhaben auf dem Rathausplatz stehen und von allen Menschen dieser Stadt bewundert werden!“

Der Herbst ging ebenso schnell vorüber wie er gekommen war und es wurde immer kälter. Alle Bäume fingen bitter an zu frieren, nur Willy konnte das kalte Wetter nicht erschüttern. Er schnappte sich die letzten Strahlen der Wintersonne und war bereit für den Tag der Tage und dieser Tag kam schneller als er denken konnte.

Die Holzfäller rücken näher

Eine Horde von Holzfällern rückte an einem Samstagmorgen an und suchte sich ihren Weg durch die Baumreihen. Alle Weihnachtsbäume wussten, dass nun ihre Reise an ferne Orte beginnen würde. In nur einer Woche würden sie bunt geschmückt in Wohnzimmern stehen und unter sich die vielen Weihnachtsgeschenke der Familien beherbergen. Sie würden ein Teil von Weihnachten werden und den Menschen Freude schenken.

Auch Willy wurde wie die anderen mit einer Motorsäge gefällt und auf einem Lastwagen zu einem großen Geschäft gefahren. Willy hatte für sich schon längst beschlossen, der berühmteste Baum der Stadt zu werden. Er wusste nur noch nicht, wer ihn abholen würde. Und so wurden die Bäume auf einem großen Platz vor dem Geschäft zum Verkauf aufgestellt.

Die Weihnachtsbäume stehen zum Verkauf

Alle Weihnachtsbäume bemühten sich möglichst gerade und prächtig dazustehen. Und einer ganz besonders. Willy, der große Weihnachtsbaum, der sich das ganze Jahr so viel Mühe gegeben hatte zu wachsen, überragte alle seine Nachbarweihnachtsbäume.

So gingen die Verkaufstage vor den Weihnachtsfeiertagen ins Land und ein Baum nach dem anderen Baum wurde begutachtet, gekauft und fand so sein neues Zuhause in einem wohlig warmen Wohnzimmer! Doch warum stand Willy noch da? Willy schüttelte mit seinen Ästen und konnte es einfach nicht verstehen, dass er selbst am letzten Tag immer noch dort stand.

Ein kleiner Baum neben ihm wurde gerade eben von einer vierköpfigen Familie gekauft, weil er genauso groß war wie die kleine Anna, die jüngste Tochter dieser Familie. Der kleine Baum rief Willy zu „Mache Dir keine Sorgen, Willy! Du findest sicherlich auch noch Deinen Weihnachtsplatz! Da bin ich mir sicher!“

Die letzten Stunden vergingen und Willy wurde immer nervöser. Doch es tat sich einfach nichts, alle gingen an ihm, dem größten aller Weihnachtsbäume vorbei! Er schüttelte und rüttelte sich, zupfte sich zurecht, aber nichts geschah. Und so gingen die Lichter im Geschäft aus und alle nicht verkauften Bäume wurden achtlos auf einen Haufen geschmissen.

Weil Willy so unheimlich groß war, wurde er mit einer Laubsäge in zwei Hälften geteilt und ganz oben auf den Weihnachtsbaumhaufen vor der Tür des Geschäfts geworfen. Da lag er nun und alle Mühe schien umsonst und alles sinnlos! Willy weinte bittere Tränen und sah keine Hoffnung mehr, jemals ein Weihnachtsfest so feiern zu können wie seine Nachbarbäume aus der Gärtnerei.

Es weihnachtet sehr, aber ohne Willy

Aus der Ferne konnte man leise Weihnachtslieder aus einer Kirche hören, die sich auf der anderen Straßenseite befand. Ganz leise und sachte, wie ein Windhauch zogen die Klänge an den im Dunkeln liegenden Weihnachtsbäumen vorbei. Es lag auch ein wenig Schnee und es war bitter kalt. Willy fror ganz dolle und verfluchte den Tag als er beschlossen hatte, der berühmteste Baum der ganzen Stadt zu werden. Er wollte von allen bewundert werden und wo lag er jetzt? Zersägt und hässlich in bitterer Kälte irgendwo im Dunkeln, wo ihn keiner sehen konnte. Die Nacht hüllte die Straße in ein tiefes Schwarz ein. Selbst die vielen Laternen an der Kirche strahlten nicht hell genug herüber zum Platz, auf dem Willy, der Weihnachtsbaum nun hilflos lag. Aus der Traum vom großen, stolzen Weihnachtsbaum, den alle bewundern sollten.

Plötzlich hörte Willy Stimmen. Sie kamen immer und immer näher und wurden lauter und lauter. Willy bekam Angst. Wer war das, der sich da in schnellen Schritten dem Haufen von Weihnachtsbäumen näherte? Oh je, es waren bestimmt die Mitarbeiter aus der Gärtnerei, um alle übrig gebliebenen Bäume abzuholen. Die Stimmen waren jetzt so nah, dass Willy erste Wortfetzen verstehen konnte:

„Schau mal hier, Sophie, der hier ist noch schön grün und hat saftige Blätter! Der ist zwar schon in zwei Stücke geteilt, aber immer noch schön! Sollen wir den mitnehmen?“ Und die Stimme eines kleinen Mädchens antwortete: „Oh ja, Mama, den will ich! Der ist toll! Den will ich haben! Das wird mein Weihnachtsbaum!“ Eine tiefe Männerstimme fügte noch hinzu: „Unsere Prinzessin hat entschieden und jetzt tragen wir dieses Prachtstück im Huckepack mit heim! Einverstanden?“ Und die kleine Sophie klatschte vor Freude in die Hände und konnte es kaum abwarten, heim zu kommen.

Willy wusste überhaupt nicht, wie im geschah. Wo wurde er denn jetzt plötzlich hin getragen. Er lag doch schon auf dem Müllhaufen. Die kleine Sophie stieg mit großen Schritten durch den Schnee neben ihrem Papa her und erzählte, dass sie ja jetzt doch ihren selbstgebastelten Weihnachtsschmuck an einen echten Weihnachtsbaum hängen konnte. Vater und Mutter warfen sich vertrauensvoll beruhigte Blicke zu: „Siehst Du, auch wenn es uns dieses Jahr nicht gut ging und wir noch nicht einmal Geld für einen Weihnachtsbaum hatten, so findet jeder der sucht, einen Zweig Hoffnung und Freude im Leben!“

An diesem Weihnachtsabend fand Willy, der Weihnachtsbaum endlich seinen Platz in einem festlich geschmückten Wohnzimmer und bekam Sophies bunte selbstgemalte und ausgeschnittene Papierweihnachtskugeln umgehängt. Auch eine Lichterkette mit ganz vielen kleinen Lichtern fehlte nicht. Und oben an der Spitze tronte ein goldener Stern, den Sophie im Kindergarten gebastelt hatte.

Doch das Schönste, das Willy, der einst stolze Weihnachtsbaum zu sehen bekam, waren die vor Freude funkelnden Augen von Sophies Eltern und der kleinen Prinzessin, die sich von Herzen über ihren ersten selbst geschmückten Weihnachtsbaum freute.

FROHE WEIHNACHTEN!

Kategorien: Natur + Kultur

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